RÜCKKEHR INS VERLORENE LAND

Lebensräume, die wir verloren haben – Our lost territories

1973/74 habe ich fast ein Jahr in Anidri gelebt, einem kleinen Dorf in den Bergen der Südküste Westkretas. Jahre später habe ich im Norden des paraguayischen Chaco alte Ayoreo-Indianer auf der Suche nach ihrem Territorium, das ihnen weggenommen worden war, begleitet. Mit dieser Erfahrung bin ich 2005 für einen Monat nach Anidri zurückgekehrt und habe gemerkt, dass auch wir Territorien besassen, und dass auch wir sie verlieren oder verloren haben.

Anidri, das kleine Dorf in den Hügeln der Südküste, gesehen im Wandel der letzten dreissig Jahre. Fusswege sind verschwunden oder verschwinden, sie sind, wenn überhaupt noch da, kaum von den Ziegenpfaden zu unterscheiden; die Ziegen haben Alles vereinnahmt, ich weiss nicht mehr, ob es früher auch schon überall Ziegen gab. Andere Fusswege, z.B..der nach Paleochora, sind jetzt versperrt durch Umzäunungen und die Abgrenzungen der Familiengrundstücke. Wo vor dreissig Jahren Alles ein einziger, weiter Olivenhain war – die Alten damals wussten sehr genau, wo eines Jeden Besitz an Olivenhain und Land lag -, da sind heute die abgegrenzten Grundstücke, markiert durch immer rostige Armierrooste, die hier jetzt als Zäune und Gatter benüzt werden. Enclosure. Früher war die Räumlichkeit und der Anspruch eines Jeden im Wissen und Bewusstsein der Dorfbewohner präsent und verankert, heute aber muss der Besitz, der ja auch nicht mehr täglich bearbeitet und belebt wird, äusserlich markiert werden.

 

Die natürliche Aesthetik einer Landschaft mit ganz wenigen Zeichen des menschlichen Eingreifens ist verlorengegangen. Die Landschaft wurde zu einem Gebrauchsgegenstand und Gebrauchswert degradiert, wo Produktion, zum möglichst niedrigen Preis und möglichst kleinem Aufwand das Äussere und die Aesthtik bestimmen. Die Aesthetik scheint sich denn auch im modernen Leben auf das Häusliche zurückzuziehen, wo Jeder individuell und zum Teil mit viel Aufwand zu gestalten versucht, was früher, im verloren gegangenen öffentlichen Raum, noch frei sich als Handlung Aller gemeinsam entwickeln konnte.

 

Wie war es früher? Alles war Privatbesitz, allerdings vielleicht nicht im gleichen, von der Preisspirale der Immobilien auf die Spitze getriebenen Sinn. Es war eines Jeden Land, aber es gehörte auch Allen zusammen. Die Bewohner von Anidri waren eine Grossfamilie.

 

Auch Beweglichkeit (“Mobilität”) ist verlorengegangen. Zwar sind heute viele der von den Ziegen und Schafen bewohnten Bereiche zugänglich über kleine Strassen, die zum Teil bis hoch hinaus in die Hügel und Berge führen – Orte, wo es früher keine Strassen oder befahrbare Wege gab. Doch schon nur der Verlust des Fussweges nach Paleochora zeugt vom Verlust an Beweglichkeit, der ohne Zweifel Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen, aber auch die Gedankenstruktur der Menschen von Anidri haben wird. “Fortschritt” bedeutet ja über die Schaffung von “bequemeren” Abläufen immer eine Einbusse an (physischer) Mobilität.

 

So legt sich eine neue Territorialität über die alte, jetzt darunterliegende, die langsam in Vergessenheit gerät. Sie wird vergessen, weil sie nicht mehr in Gebrauch steht. Diejenigen, die im “alten” Territorium lebten und es belebten, werden alt und sterben, sie hören auf, ihr Territorium zu benutzen. Und die, die nachkommen, leben bereits in der neuen Territorialität. Der Wandel ist rasant, er verläuft sehr schnell….

 

 

*

 

Was ist die Folge für das Tal von Anidri? Es ist nicht mehr von Menschen auf natürliche Weise aktiv belebt. Es wird zu einem Nutzobjekt, während die Eigentümer oder Nutzniesser dieses Objekts sich zurückziehen auf persönliche Inseln, in welchen sie ihre Freiheit und Kreativität noch leben. Das Tal stirbt ab, weil es einseitig genutzt wird. Es wird ihm entnommen, was in einen Geldwert verwandelt werden kann. Es gibt keine Schutz- oder Vorsichtsmassnahmen, die diese Abläufe begleiten und halten würden. Es wird nicht darüber nachgedacht. Es gibt ja auch nicht eigentlich einen Plan (den Jemand hält) für diesen Ablauf, niemand überblickt das Geschehen, seine Folgen und seine Nebenwirkungen.

 

So hört also das Tal auf, zu leben, langsam, aber sicher. Würde es zu einem Schutzgebiet erklärt, verfiele es in eine Art Dornröschenschlaf, es könnte dann unter Umständen wieder sehr schön werden, aber zu vollem Leben erwacht es deswegen nicht, dazu benötigt es „seine Menschen“, Menschen, die zu ihm gehören und mit ihm leben…

 

März 2005 – Anidri, Kreta

 

 

 


Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*