UNSICHTBARES PARAGUAY

Der Tod von Nicasio Montiel

(geschehen und geschrieben in den ersten Monaten 2000)
Campesinos(as) besetzen erfolgreich ein immenses Latifundium im Norden von Ostparaguay, aber Einzelne werden deswegen verfolgt und brutal umgebracht. Der Mord an Mboreví, Nicasio Montiel, wurde von den Strafbehörden nie untersucht.

Anscheinend ist Nicasio Montiel, 48 Jahre alt, wirklich tot. Sein Übername war “Mboreví”, Tapir. Die Männer der Landbesetzung hatten, mit Hilfe von Tiernamen oder anderen Benennungen aus der sie umgebenden Natur, gegenseitig ihre Gesichts- Verhaltens- oder Charakterzüge spielerisch und auch liebevoll spöttisch festgehalten.

Cristina, gerade aus dem Norden von Concepción zurückgekehrt, erzählt langsam, es sind keine Gefühlsbewegungen sichtbar. Schützt sie sich vor zu viel innerer Bewegung, Schmerz, Trauer, Ratlosigkeit? Sie hatte, selbst eine Campesina, die Landnahme Ende Juni 1996 mit angeführt, hatte die nun vierjährige Geschichte zuerst mitgelebt, später dann von Aussen her weiter begleitet, unspektakulär, mit wenigen Mitteln aber mit zäher Geduld. Ihr Leben ist seit über 40 Jahren Suche, Arbeit an der Verwirklichung des Paradieses auf Erden, des “Lands ohne Übel” auf das sich schon die oft verzweifelte Sehnsucht ihrer indianischen Vorfahren gerichtet hatte.

So trägt dieses von den Campesinos seit 1996 besetzte Land den Namen “Yvy Marane’ÿ”, “Land ohne Übel” oder, im übertragenen Sinn, “das versprochene Land”.

Nicasio, so Cristina, ist in der Nacht zum 14. Januar zusammen mit Sanchez, der auch tot ist, jagen gegangen. Auch die Männer von Y.M. lieben das Jagen. Da sie Land am Ende der Welt besetzt haben, dort, wo die moderne Fortschrittszivilisation noch nicht hingelangt ist, können sie, ja sie müssen ihrem Jagdtrieb folgen um den Nahrungsbedarf ihrer Familien mit erbeuteten Wildtieren und den verbliebenen Rindern des enteigneten Grossgrundbesitzers zu decken.

In den frühen Morgenstunden jener Nacht hörten die Bewohner der letzten Häuser eine ferne Schiesserei. Sofort zogen vier Männer zu Pferd aus: Nicasio und sein Begleiter waren noch nicht nach Hause zurückgekehrt. Drei Kilometer nördlich fanden sie Spuren einer intensiven Auseinandersetzung; das viele Blut liess Schlimmes ahnen. Seit der Landnahme hatten die Angestellten und die im Dienste des Grossgrundbesitzers stehenden Polizeiagenten trotz der vom Parlament noch 1996 ausgesprochenen Enteignung bereits zwei Campesinos getötet, mehrere verletzt und viele von ihnen immer wieder belästigt, gehetzt gejagt.

*

Wem erzähle ich dieses Geschehen, und weshalb?

Es sind über zwei Monate verstrichen, und bekannt ist diese Geschichte in der Hauptstadt kaum geworden. Eine der Tageszeitungen hat der nachfolgenden Zerstörung der noch verbleibenden Stallungen und Gehöfte des Grundbesitzers eine ganzseitige Reportage gewidmet. In einem der Gehöfte hatten die Bauern, inzwischen eine Gruppe von etwa 40 Campesinos, die nach Spuren von Nicasio und Sanchez suchten, ein Bettgestell mit blutigem Laken und menschliche, aus dem Darm ausgetretene Exkremente gefunden. Den Bauch perforiert, sagt Cristina. Gefoltert, krepiert, denkt es in mir. Eingewickelt im Laken der lederne Beinschutz von Nicasio, und unweit davon sein Jagdmesser. Die Campesinos und mehrere Polizisten aus einer der umliegenden Ortschaften, veranlassten eine richterliche Bestandsaufnahme und legten hernach Feuer an das Gehöft. Waren sie zornig? Empört? Verzweifelt? Ohne Hoffnung auf eine vom modernen Staat propagierte Gerechtigkeit? Sie äscherten, immer noch in Begleitung der Polizisten, in der Umgebung weitere vier zur Farm gehörige Unterstände und Gehöfte ein, während andere Bauern oder auch professionelle Viehdiebe, die Gunst der Stunde nutzend, noch verbliebene Rinder des Grossgrundbesitzers forttrieben. Viel plötzliche Bewegung in jener weit abgelegenen Welt, unaufhaltsames, von innerer Entrüstung und lang aufgestautem Zorn gelenktes Tun, die gespenstisch anmutende Bewegung einer grossen Anzahl Menschen, die sich ihr Recht selbst verschaffen.

Die Reportage in der Zeitung beklagte sich über den mangelnden Schutz der Besitztümer des Grundbesitzers, und schilderte eindringlich, wie schwierig die Situation für die Angestellten der Farm gewesen war angesichts der aufgebrachten Campesinos. Die Reportage vermittelte von ihnen das Bild einer wilden, brandschatzenden Horde.

Die ausgedehnten Marihuana- Pflanzungen, die der Besitzer auf dem bereits enteigneten Land angelegt hatte und die von den Bauern bei der Suche nach den Verschwundenen gefunden worden waren, wurden in der Presse zwar auch erwähnt, aber sie fanden keine weitere Beachtung. Wie es scheint, war die jahrelange Belästigung und Verfolgung der Bauern der neuen Siedlungen nur ein Ablenkmanöver: Sie galt nicht dem Schutz der Rinder oder der Farmeinrichtungen, sondern diente der Geheimhaltung der verbotenen, aber überaus lukrativen Pflanzungen.

In der Hauptstadt lässt sich mit solchen Geschichten die Auflage der Zeitungen nicht erhöhen. Zwei ermordete, vorher vielleicht gefolterte Menschen, Campesinos, das ist für den Leser in der Hauptstadt nichts so Ungewohntes. Sogar wer noch wahrnehmen kann, was sich hinter dem da Gedruckten verbirgt, wer Zugang hat zu den Gefühlen der Entrüstung, des Zorns oder der Trauer, bleibt sich selbst und der Welt doch verantwortungsbewusste, tätige Antworten schuldig. Man mag es sich nicht eingestehen, aber Müdigkeit kommt auf; Absinken von Kräften, die keine Angriffspunkte ausmachen können. Auch das Nachdenken wird zunehmend sinnlos, wenn der Eingang zur Wirklichkeit, in der das Gedachte umgesetzt werden könnte, nicht sichtbar ist. Worte und Proteste werden immer wieder laut, aber sie fallen, wenn überhaupt wahrgenommen, doch in die gleichförmige Flut der Alltagsnachrichten, wo sich Unwichtiges, Gelogenes, Verdrehtes und Erfundenes mit Wichtigem, Naheliegenden und wahrhaftig Gefühltem vermischt.

Das immer kompliziertere und zeitspieliger werdende Alltagsleben lässt den Meisten kaum Zeit und Möglichkeit , ihre Wirklichkeit zu fühlen und mitzuerleben; noch weniger, in ein für die meisten fernes Geschehen, das nicht direkt das Ihre ist, einzugreifen. Jedermann hat selber genug Probleme.

*

Nun bin ich es, der diese Geschichte erzählt, in kurzen Worten, diesmal auf deutsch, für Leser und Hörer dort, wo diese Sprache gesprochen wird. Dass da auch meine Heimat, die Schweiz, liegt, motiviert mich dazu.

Ich möchte das, was seit Jahren um mich ist und geschieht, bekanntgeben.

Auch die Leser in Europa haben einen komplizierten, zeitraubenden Alltag zu bewältigen, und vom Geschehen in Yvy Marane’ÿ sind sie noch weiter entfernt als die Bewohner von Asunción. An tätiges Eingreifen ist nicht zu denken. Man weiss im Kopf, rational, dass das ferne Geschehen auch etwas mit einem selbst und dem Leben in der Schweiz und in Europa zu tun hat, aber meist hat man diesen Zusammenhang aus dem Gefühl und aus dem Griff verloren. Dieser Umstand scheint dem gesagten auch schon von Anfang an eine lediglich fakultative Tragweite zu geben.

Obwohl ich gerade das Gegenteil auszudrücken suche: Was hier geschieht, möchte wichtiger sein als unser ernster, seriöser Alltag, sei es ein Alltag in der hiesigen Hauptstadt oder in der fernen Schweiz. Will in diesen Alltag einbrechen als etwas Lebendiges, was mehr Farbe und Kontur hat als Anderes, etwas, was einen stärkeren Geschmack hinterlässt.

Die Geschehnisse in Yvy Marane’ÿ reichen bis zu mir, und nun, durch mich, bis zu uns. Den Tod von Nicasio kann ich nicht einfach hinnehmen. Er bedeutet etwas. Bedeuten heisst, ein Zeichen geben, etwas sagen. Nicht die Campesinos von Yvy Marane’ÿ sprechen zu uns: Ihr Leben, ihre “Situation”, das, was ihnen widerfährt spricht zu uns. Es ein Geschehen, das zu mir spricht und durch mich zu uns. Und ich versuche hinzuhören und dann zu erzählen, was ich höre.

*

Hätte ich das ferne Geschehen in Yvy Marane’ÿ nicht “aus dem Gefühl verloren”, wäre Nicasio, der Tapir, mein Kind gewesen, oder mein Vater, dann wäre sein Tod auch ein Tod von mir gewesen.

Er hätte für mich die schmerzliche Qualität eines Todes, der in meinem eigenen Körper oder in meiner eigenen Familie geschehen ist, und ich würde nicht ein äusseres Geschehen erzählen, sondern auch ein Inneres: Das, was mir selber geschehen ist.

Die Welt wäre ein Geschehen, zu dem ich auch gehöre. Eingreifen oder etwas tun wäre naheliegender, und die Möglichkeiten dazu wären sichtbar. Sie würden vermutlich bei mir selbst beginnen und von mir wegführen.

Die Geschichte von Nicasio erzählen bedeutet so, meine Gefühle zur Geschichte von Nicasio aussprechen. So knüpfe ich die verlorenen, verdeckte, vergrabene Beziehung zu ihm und seiner fernen Welt neu. Oft beginnt, wie bereits gesagt, dieses Aufdecken, Aufspüren der Gefühlsstränge mit dem Fehlen jeglichen Gefühls mit Nicasio. Ein Unbehagen und ein Unvermögen, das ist es, was ich da Fühle. Die Frage “warum fühle ich nichts, wo doch jemand um sein Leben gebracht wurde?”. So kann am Anfang des Fühlens das unangenehme Fehlen des Gefühls stehen, es wird zum Ausgang für uns in die Welt.

 


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