WORKING PAPERS

Entkolonisierung der Entwicklungarbeit –

500 Jahre und ein Fallbeispiel zum Nachdenken - Ich fand, auch wenn mehr als 20 Jahre vergangen sind, sei es immer noch wichtig, diesen 1992 verfassten Bericht über ein Projekt innerhalb des Bolivienprogrammes des SRK auch hier zugänglich zu machen... zum Ideenaustausch, zur Anregung einer immer noch überfälligen Analyse dieses seltsamen Tuns welches sich Entwicklungszusammenarbeit nennt...

500 Jahre und ein Fallbeispiel zum Nachdenken

 Eingangsbemerkung:

Ich fand, auch wenn mehr als 20 Jahre vergangen sind, sei es immer noch wichtig, diesen 1992 verfassten Bericht über ein Projekt innerhalb des Bolivienprogrammes des SRK auch hier zugänglich zu machen… zum Ideenaustausch, zur Anregung einer immer noch überfälligen Analyse dieses seltsamen Tuns welches sich Entwicklungszusammenarbeit nennt…

Vorspann

«Bist Du gekommen, um Deine Spuren zu verwischen?» Die Frage von Zenón, dem inidianischen Fahrer, der mich auf der Bahnstation abholte, verblüffte mich. Es handle sich um ein indianisches Sprichwort, erklärte er mir; man sage es, wenn Jemand nach langer Zeit an den Ort früheren Wirkens zurückkehre. Und jetzt, Wochen später, geht mir die Frage durch den Kopf, ob eigentlich die Entwicklungsarbeit nicht immer versucht habe, ihre eigenen Spuren von früher und auch diejenigen der Kolonialzeit zu verwischen. «Verwischen» ist hier zweideutig: Es kann heissen, «ungeschehen machen», aber es kann auch «vertuschen» heissen.

Eine gewisse Zweideutigkeit war auch in der Beziehung zwischen mir und den Indianern spürbar. Tatsächlich kehrte ich nach Jahren dahin zurück, wo ich 14 Jahre zuvor als Delegierter des Schweizerischen Roten Kreuzes ein Gesundheitsprojekt aufgebaut hatte. Teils wurde ich nun während meines Besuchs bei den «Izozeño» – das karge Gebiet des Izozog hat seinen indianischen Bewohnern die heutige Stammesbezeichnung verliehen – als eine Art früherer Weggenosse und Freund begrüsst und behandelt, teils aber als Abgesandter der geldgebenden «Institution». Wenn man mit dieser Zweideutigkeit zu leben lernt, merkt man mit der Zeit, dass beides stimmt: Ich bin ein Freund, und ich bin eine Geldkuh.

Mein Auftrag bestand darin zu erforschen, was in 14 Jahren der unterstützenden Projektarbeit des SRK mit den Izozeño und anderen von der «Institution» in Bolivien unterstützten Gruppen «gut» gewesen sei. Es galt, Erfahrungen und mögliche Lehren, zum Teil zusammen mit den betroffenen Gruppen aufzuarbeiten.

Am Morgen nach meiner Ankunft fand eine Sitzung mit dem Capitán Grande, dem Oberhäuptling, seinen Beratern und mit Vertretern der Izozenischen Gesundheitsbehörde statt. Es ging um den Zweck meines Besuchs. Dass andere von ihnen Einiges lernen konnten, das wussten die Izozeño schon lange gut genug; heute richtete sich ihr Augenmerk vielmehr auf das Finanzielle. Ich hatte erklärt, die «Institution» würde die von mir gesammelte Rohinformation benötigen, um künftige Finanzierungen für die Bolivienprojekte zu sichern. Sie wollten daraufhin wissen, weshalb die Fortdauer der Unterstützung «seitens der Scheizer Regierung» (50% der Finanzierung wird mit Bundesbeiträgen gesichert) im Zweifel stände – sie müsste noch bis 1995 andauern, war aber einige Monate zuvor in Frage gestellt und nur mit Mühe vorerst wieder gesichert worden. Meine Antwort, sie betraf den Abzug von Mitteln für die Hilfe in der 3. Welt zugunsten der Oststaaten, liess die langfristige Verlässlichkeit öffentlicher Entwicklungshilfe in eher ungünstigem Licht erscheinen – ich sprach jetzt als Freund und Verbündeter: ich ermunterte meine Gesprächspartner, sich entschieden auf ein Ueberleben ohne externe Unterstützung vorzubereiten, gab aber gleichzeitig meiner Meinung Ausdruck, das SRK würde alles daran setzen, um seine finanzielle Unterstützung zu Ende führen zu können; eine Hilfeleistung, die mittendrin abgebrochen wird, kann unter Umständen grossen Schaden anrichten.

Während der darauffolgenden Wochen hatte ich Gelegenheit, in die heutige Wirklichkeit der Zielgruppen der SRK- Projekte hineinzusehen, teils mit ihren Augen, teils mit meinen eigenen. Ich begann, Eindrücke und Bilder zu sammeln und versuchte dabei, der entschlossenen Gangart der Anführer und der Vertreter der Bevölkerung zu folgen und herauszufinden, was wichtig und «gut» war.

Was in Bolivien in der Partnerschaft zwischen dem SRK und den Indianern und Bauern, mit denen es zusammenarbeitet geschehen ist, ist spannend und bemerkenswert; eines der Projekte, das der Izozeño, ist sogar erfolgreich. Ob diesem Erfolg und der Arbeit des Hilfswerks in Bolivien der Charakter der Beispielhaftigkeit zukommt und ob daraus konkrete Ideen oder Anleitungen für neue Wege gewonnen werden können, bleibt weitgehend dem Leser überlassen. Zumindest verdient die hier dargestellte Erfahrung als Impuls zum Nachdenken und als Ausgangspunkt neuer Fragen ernstgenommen zu werden.

Benno Glauser

Asunción, Oktober 1992.

 

1. Die Izozeño unterwegs: Ein Modell?

1.1. Ausgangslage und Geschichte

Die dringende Notwendigkeit einer Hilfe von Aussen begründeten die Izozeño an verschiedenen Stammesversammlungen, die 1978 den Beginn der Bemühungen im Gesundheitsbereich einleiteten. Sie beschrieben ihr Ausgeliefertsein gegenüber der Natur, gegenüber den Weissen und gegenüber den Krankheiten, die Kinder und Erwachsene bedrohten und zu oft sterben liessen. Sie beschrieben ihre Armut, auch die Armut an Heilmitteln für diese Übel und an Wissen, wie ihnen begegnet werden könnte. Die anwesenden SRK- Vertreter formulierten aufgrund dieses Hilferufs, vor allem aber auch gestützt auf ihre eigenen Beobachtungen und Schlussfolgerungen ein Projekt; darin wurde eine mobile, präventive und erzieherische Arbeit in den Dörfern vorgeschlagen; es sollten Gesundheitspromotoren auf Dorfebene ausgbildet werden; das Kleinspital des Izozog sollte materiell unterstützt, aber dann langfristig auf eine von Aussenhilfe unabhängige Grundlage gestellt werden. Weitere Stichworte waren, unter anderen: Klärung der Beziehung zum staatlichen Gesundheitssystem, Beitrag zur Stabilisierung der Ernährungsgrundlage der Bevölkerung, Einbezug der traditionellen Izozeño- Medizin. Ein äusserst behutsames Vorgehen sollte die Integrität der indianischen Kultur und Wesensart garantieren und die Erhaltung der ethnischen Einheit und Identität sichern.

Von Anfang an wurde jeder Schritt mit den «Capitanes» (Häuptlingen), der politischen Führung der Izozeño, geklärt und abgesprochen; für die Ausführung des Projekts wurde aus engagierten und basisnahen weissen Bolivianern ein Projektteam gebildet und permanent im Izozog stationiert.

Der Izozog: Das waren 16 Dörfer, entlang dem im Winter ausgetrockneten Flussbett des Parapetí; eine Bevölkerung von damals etwas mehr als 3500, zu 95% dem Stamm der Chiriguano- Izozeño angehörig; angeführt vom legendären Capitan Grande Bonifacio Barrientos («Bonny der Alte»); ein vom übrigen Bolivien abgeschnittenes, nur durch mehrere 40 km lange unwegsame Waldschneisen erreichbares, flaches Gebiet; ein Oekosystem aus dornigem Wüstenwuchs und Sand, mit wenig Wasser, gerade genug für ein karges und verbissenes Ueberleben von Pflanze, Tier und Mensch; ein Ort, des Lebens, der Lebensfreude, des Leidens und des Sterbens wie mancher andere; Habitat der Izozeño seit Menschengedenken. In den 60er und 70er Jahren war das Ueberleben schwieriger geworden: Der Vormarsch der weissen Zivilisation hatte dieses Habitat langsam, aber nachhaltig zu verändern und seine natürlichen Ressourcen zu gefährden begonnen. Die Monetarisierung des Lebens hatte drastisch zugenommen; die Männer versuchten, dem wachsenden Bedürfnis nach Geld mit häufigerer Saisonarbeit in der Zuckerrohrernte zu begegnen und gerieten nun zunehmend in die Falle einer sklavenartigen Abhängigkeit durch Verschuldung. Der Zustand der Zufahrtswege zum Izozog erschwerte die Aussenkontakte und regelmässigen Handelsbeziehungen. Abseits und ausserhalb der bolivianischen Gesellschaft konnten die Izozeño scheinbar kein menschenwürdiges Leben mehr führen; ob sie es als akzeptierter Teil innerhalb der Gesellschaft können würden, war fraglich und keineswegs offensichtlich.

Heute sagen die Izozeño, sie hätten dem SRK anfangs wenig Glauben geschenkt und sich erst mit der Zeit stärker engagiert, als die Gesundheitsarbeit ihre ersten fühlbaren Erfolge zeitigte. Ihre Geschichtsschreibung unterscheidet sich übrigens von derjenigen der «Institution» (SRK):  Die in deren Dokumenten und Berichten enthalten Daten über erreichte Zwischenziele und neuer Schritte stimmen nicht mit denjenigen der Izozeño überein; diese registrieren in ihrer Geschichte dieselben Vorkommnisse meist mit ein- oder sogar mehrjähriger Verspätung: So wird die Besetzung der Spitalstellen durch Izozeño auf 1982 datiert, obwohl bereits 1979 die meisten Stellen in ihre Hand übergegangen waren; die Vermutung liegt nahe, dass die Indianisierung des Spitals durch sie erst dann registriert wurde, als dieselbe auch in ihrem Bewusstsein – und  nicht nur in der formalen Projektgeschichte -zur Realität geworden war.

1985 trat Bonny Chico («der Kleine») als Oberhäuptling die Nachfolge seines Vaters an. Schon seit 1981 waren, wenn immer möglich, abgehende Mitarbeiter des SRK- Projektteams durch Izozeño ersetzt worden. Der zentrale Wendepunkt der Projektgeschichte trat aber 1987 ein: Das Projekt, obzwar noch weit von seiner Beendigung entfernt, wurde übergeben; es wurde  vollumfänglich, also inhaltlich und auch administrativ, der Stammesführung unterstellt. Dieser für ein Hilfswerk mutige und aussergewöhnliche Schritt und seine Folgen stellen den Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse dar.

1.2. Die Izozeño jetzt

Stand de Gesundheitsarbeit

Drei aerztliche Vertreter der staatlichen Gesundheitsbehörde erschienen im August 92 zu einem unangekündigten Inspektionsbesuch der ihnen unterstellten Gesundheitsdienste im Izozog. Ihr spürbarer Argwohn gegenüber «diesen Indios, die ein Spital leiteten»  verwandelte sich im Laufe der Inspektion ins Gegenteil: Die Besucher waren beeindruckt von der professionellen Kompetenz und vom aussergewöhnliche Engagement der Stammesführung und der izozenischen Angestellten der Gesundheitsdienste; auch die konzeptuelle Klarheit überraschte sie und die Tatsache, dass «die Arbeitsinhalte in einer kulturell eigenständigen Denkweise wiedergegeben werden». – Statistisch gesehen übertreffen die Leistungen der Gesundheitsdienste im Izozog diejenigen der umliegenden Distrikte; die Izozeño merken das mit berechtigtem Stolz an.

Abgesehen vom Betrieb des Kleinspitals (zwei Aeztestellen, 14 Betten) und von vier peripheren Gesundheitsposten zeichnet die Stammesführung auch für Aktivitäten verantwortlich, die ausserhalb des Bereichs präventiver und kurativer Routinearbeit liegen: so die Unterstützung und den Einbezug der traditionellen Medizinmänner und Hebammen, den Aufbau eines kollektiven Beitragsystems (Gesundheitssteuer) auf Dorfebene, oder die sorgfältige Vorbereitung von Massnahmen gegen die drohende Choleraepidemie. Impfungen, TB- Bekämpfung, Gesundheitserziehung u.ä. gehören dagegen zur Routinearbeit. Geleitet wird der ganze Gesundheitsbereich durch ein fünfköpfiges Izozeño- Team, dessen Mitglieder ihre Laufbahn vor über zehn Jahren in ihren Dörfern als Gesundheitspromotoren begannen. Dem Team steht ausser dem Spital auch die ehemalige Projektbasis des SRK, sowie ein Fahrzeug (gekauft mit Mitteln des SRK), ein Motorrad und zwei Radiostationen zur Verfügung. Finanziert wird der Gesundheitsbereich teils durch den Staat, teils durch das SRK, dessen Anteil bis 1995 durch ein neuzuschaffendes Beitragssystem der Dörfer ersetzt werden soll.

Zwei grundlegende Aspekte des Systems fallen besonders auf: Die Beschränkung auf das Wesentliche und die Gleichwertigkeit der Heilsysteme der westlichen und der indianischen Medizin. Beide Aspekte tragen nicht nur zum Erhalt der Izozeñokultur bei, sondern helfen auch mit, die Kosten des Gesundheitsdienste auf einem niedrigen, den wirtschaftlichen Möglichkeiten der Izozeño angepassten Niveau zu halten. Der erste Aspekt setzt eine Fähigkeit voraus, die die Indianer auf beeindruckende Art beherrschen, nämlich diejenige, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden. So wird viel teurer und weniger wichtiger Ballast der westlichen Medizin und der staatlichen Gesundheitsbürokratie ausgesondert und beiseite gelassen, ohne dass dadurch die Gesundheitsdienste an Fachkompetenz oder Schlagkraft einbüssen würden; auch sie nehmen damit die starken, einfachen Züge der izozenischen Lebensart an, einer Lebensart, die sich unter dem Druck widriger, äusserst karger Gegegebenheiten eben aufs Wesentliche zu beschränken hat.

Zum zweiten Aspekt bemerkt der Oberhäuptling Bonny Chico: «Wir erwarten von unseren Medizinmännern nicht, uns ihren heilenden Geist auszuliefern; wir wollen nur, dass ihre Heilkräfte sich wieder bei uns niederlassen.» So praktizieren heute Izozeño- Aerzte zusammen mit westlich ausgebildeten «Doctores» sowohl im Spital als auch ausserhalb; in der Spitalapotheke stehen neben industriellen Medikamenten auch eine Reihe von einfach hergestellten Heilpräparaten der Izozeño- Medizin; manchmal reisen ihretwegen sogar Kranke aus anderen, entfernten Gebieten an; die Schamanen des Izozog kommen regelmässig zusammen, um Erfahrungen auszutauschen und ihr Vorgehen abzusprechen; zwei junge Izozeño nähern sich dem Abschluss ihrer traditionellen, siebenjährigen Ausbildung zum Schamanen; auch die Dorfhebammen des Izozog kommen vierteljährlich zusammen. Der Bevölkerung des Izozog bleibt so in aller Offenheit der Zugang zu «ihrer» Vertrauensmedizin erhalten, worüber sichtbare Genugtuung und tiefe Zufriedenheit herrscht. Es geht nicht nur um Heilung, es geht um Gesunden und Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Religion und Lebenswelt.

Wird das izozenische Gesundheitssystem langfristig, auch nach dem Ende der finanziellen Unterstützung durch das SRK, überleben können?  Claudio Esteban, langjähriger Leiter der Gesundheitsdienste, spricht mit jugendlichem Optimismus und gleichzeitig mit dem ruhigen Mass des Indianers: «Wir verfügen nun über ausgebildetes Fachpersonal aus unseren Reihen; verschiedene weitere Izozeño, darunter auch ein zukünftiger Arzt, befinden sich in der Ausbildung. Ich glaube, ein grosser Teil der Gesundheitsdienste wird bestehen bleiben, obwohl wir wohl gezwungen sein werden, aus finanziellen Gründen die eine oder andere Dienstleistung zu reduzieren oder aufzugeben. Der Spitalbetrieb wird vermutlich zum Teil privatisiert werden müssen; das bedeutet, dass gewisse, besser gestellte Patienten oder bestimmte exklusivere Dienstleistungen individuell bezahlt werden müssen. Wir werden entscheiden müssen, was mit Hilfe des kollektiven Beitragssystems der Dörfer abgedeckt werden kann und was nicht. Aber ich gehe davon aus, dass wir das heutige Niveau der Gesundheit unserer Bevölkerung halten werden können!».

Noch werden die Gesundheitsdienste nur zu einem kleinen Teil durch das Beitragssystem mitgetragen, und das – innerhalb der traditionellen Izozeño- Kultur nicht existente – Bewusstsein kollektiver Verantwortung für ein Gesundheitssystem auf Stammesebene durchdringt die Dorfgemeinschaften erst langsam; viele Izozeño sind zwar bewusste, aber noch passive Hilfsempfänger; für viele liegen ausserdem die Zeiten der Mutlosigkeit, der Ohnmacht und der Erschöpfung erst ein paar   Jahre zurück. Fest verankert hat sich in der Bevölkerung die Ueberzeugung, dass die Unterstützung von Aussen ihr geholfen hat, neue Kräfte zu schöpfen und sich zu erheben. Sie weiss, dass ihre Kinder heute die früher allzuoft tödlichen ersten Lebensjahre überleben, und dass sich die Gesamtzahl der Izozeño seit 1978 verdoppelt hat; aus dem Bewusstsein solcher, mit dem Einsatz der eigenen Kraft erlangter Erfolge entstehen grosser Optimismus und neue, weithin spürbare Energien.

Gesundung auch auf kollektiver und politischer Ebene

Im Unterschied zu anderen Entwicklungsorganisationen, die im Laufe der letzten 15 Jahre im Izozog tätig waren, hat es die «Institution» (SRK) nie darauf angelegt, eigene, leichter manipulierbare und von der politischen Stammesorganisation unterschiedliche Strukturen zu schaffen: Von Anfang an respektierte sie die Stammesorganisation, setzte ihr Vertauen in sie und anerkannte sie als vollwertigen Partner.

Heute ist dieser Partner zu Kräften gekommen und ist autonom; der frühere Projektpartner ist zum Projektträger, die Mitbestimmung zur vollständigen Selbstbestimmung geworden. Tatsächlich erhält, wer heute mit den Izozeño zu verhandeln hat, leicht den Eindruck, er stehe den Vertretern eines fremden, souveränen Staates gegenüber. «Wir haben uns unter Führern ausgesprochen», sagt Bonny Chico nach einer Audienz beim Gesundheitsminister. Der Oberhäuptling hat nicht nur gelernt, sich in der Welt der Weissen frei zu bewegen, er wendet ihre Spielregeln an und spielt nun – nicht ohne eine gewisse Ueberlegenheit – mit seinen Gesprächspartnern und macht sich deren Schwächen, zusammen mit denen der weissen Gesellschaft, geschickt zunutze, um für sein Volk das zu erreichen, was es benötigt. Der Aufwand dieser «internationalen» Beziehungen ist allerdings gross: es ist eine Art kalten Krieges mit der Regierung, den Behördenstellen, der einflusshungrigen Kirche, Grossgundbesitzern, Vertretern von Entwicklungsorganisationen, ein Krieg, der grosse Aufmerksamkeit und der Kräfte in Anspruch nimmt, die im Izozog selbst auch dringend benötigt würden.

Der Lohn für diesen Einsatz besteht – nicht quantifizierbar – im wachsenden Respekt, mit dem den Izozeño begegnet wird, aber auch im wachsenden Grad ihrer Unabhängigkeit und Kontrolle des eigenen Gebietes, der eigenen Ressourcen und Interessen, darunter auch diejenigen, die mit ihrem individuellen und kollektiven Gesundsein verbunden sind.

Im Izozog selbst werden die Gesundheitsdienste und deren Leitung, wie übrigebns auch diejenigen anderer Sektoren und Projekte, ständig von der Stammesführung um Bonny Chico beaufsichtigt; für diese Aufgabe steht ihm ein Aufsichtsauschuss zur Seite; ähnliche Aufsichtsinstanzen gibt es auch auf der Ebene jeder der 16 Dorfgemeinschaften. Fehlende oder mangelhafte Betreuung kann so umgehend mitgeteilt und ins Lot gebracht werden.

Die Gruppe der innerhalb der Stammesorganisation aktiven Izozeño wächst an: Sie umfasst heute nicht nur die Häuptlinge und deren Berater; sie reicht von der Gruppe der noch lebenden, früheren Ratgeber Bonny des Alten bis hin zu den ausserhalb des Izozog ausgebildeten jungen Fachkräften. Unter ihnen sind die Angestellten der Projekte – so auch des Gesundheitsdienstes – als Lohnempfänger privilegiert. Das dadurch geschaffene Konfliktpotential sozialer Ungleichheit wurde bisher kaum zum Problem: Die Zahl der Stellen ist gering, und ihre stabile Besetzung hat bisher jede Spekulation oder Günstlingswirtschaft ausgeschlossen.

Erreichtes / Probleme

Es ist schwierig, innerhalb der in den letzten 15 Jahren eingetreten Veränderungen im Izozog zu unterscheiden zwischen solchen, die auf die Arbeit und Präsenz des SRK zurückzuführen sind und anderen; die Izozeño selbst unterscheiden innerhalb ihrer Weltsicht kaum zwischen medizinischen, religiösen oder wirtschaftlichen Aspekten. Die «Institution» hat es

ausserdem von Anfang an auf die Stärkung der natürlichen Stammesstrukturen angelegt, und die resultierende Kraft aus der individuellen, gesundheitlichen sowohl als auch aus der kollektiven Erstarkung ist im Laufe der letzten Jahre in allen wichtigen Lebensbereichen spürbar geworden.

WAS HAT SICH GEÄNDERT?

* modernisierte politische Struktur, die Alten und Jungen, traditionellen und neuen Werten Raum gibt

* tatkräftige, starke Stammesführung

* Verdoppelung der Bevölkerungszahl (ohne Zuwanderung)

 * Festigung der Identität und des Selbstbewusstseins

* Wille und gesteigerte Fähigkeit, von den Weissen zum eigenen Nutzen zu profitieren

* permanente Ausschau nach materiellen, politischen und spirituellen Vorteilen

* Wille, die eigenen Erfolge anderen

mitzuteilen und sie zu unterstützen

* Verringerung des Einflusses und der Präsenz weisser Grossgrundbesitzer; wachsende positive Integration mit der im Izozog verbleibenden weissen Bevölkerung

 

WAS HAT SICH nicht GEÄNDERT?

* wirtschaftliches Auskommen der Bevölkerung nicht verbessert

* weiterhin von Saisonarbeit abhängig: Zuckerrohrente

* immer noch ständig neue Bedrohungen der Stammesinteressen (weisse Einwanderer/Siedler in der weiteren Umgebung; akuter Wassermangel, der Landbau und Viehzucht stark erschwert; etc.)

* immer noch: wachsende Abhängigkeit vom Geld/käuflichen Produkten; traditionelle Ernährungselemente werden ersetzt/gehen verloren: mehr Izozeño suchen Lohnarbeit

 

 

 

GESUNDHEIT: KONKRET ERREICHTES

* drastisch reduzierte Kindersterblichkeit

* Bevölkerung verlangt regelmässige Impfungen

* Zunahme der lebensschützenden und -rettenden medizinischen Ressourcen

* Erfolgreich vermiedene Schwächung der traditionellen Medizin

* Möglichkeit, sich kombiniert von Vertrauensärzten der eigenen Kultur und von Aerzten der westlichen Medizin behandeln zu lassen

* Frauen: traditionelle Geburtshilfe durch westliche Elemente verbessert; Verminderung des Risikos

* Izozeño als Aerzte: zwei traditionelle und ein westlicher Medizinstudent in Ausbildung

* Tuberkulose: junge Patienten sind aktiv behandlungswillig und führen Behandlung zu Ende

* kompetente, engagierte Fachkräfte im Gesundheitssektor

* systematische Prävention im Gesundheitsdienst verankert

* gut entwickelte Fähigkeit, neuartige Probleme in die Arbeit zu integrieren

* hoher Deckungsgrad/Effizienz der Gesundheitsdienste

* staatliche Gesundheitsbehörden nehmen die izozenischen ernst

* kompetente, izozenische Führung des Kleinspitals und der vier Aussenposten; frühere monetäre Barrieren abgebaut

* 10 in den Dörfern aktive Gesundheitspromotoren

* Plan für unabhängige Eigenfinanzierung der Gesundheitsdienste liegt vor; dafür bestimmtes Ackerland in 16 Dörfern steht bereit

* andere Indianer- und Bauerngruppen interessieren sich vermehrt für den Weg der Izozeño; diese beginnen ihrerseits, solche Basisgruppen zu begleiten und aktiv zu unterstützen

 

 

WEITERE ERFOLGE:ERZIEHUNG

* erste drei Schuljahre im Izozog: Unterricht in der eigenen Guarani- Sprache und Kultur (Name dieses Systems: «Tataendi» = «Feuer, das wieder aufflackert»)

* Unterricht schliesst Analyse wichtiger Lebensprobleme ein (Saisonarbeit; Lebensart der Weissen etc.)

UMWELT

* Plan für Artenerhaltung im Izozog (mit Aussenhilfe) liegt vor

WIRTSCHAFT

* Land zu 90% legal gesichert

* Pläne zur Ausdehnung des Stammesgebietes weit vorangetrieben

* extensives Viehzuchtprojekt der Stammesführung in Vorbereitung

* Frauen stellen national und international verkaufte kunsthandwerkliche Produkte her

Während sich auf diese Art verschieden Probleme gelöst haben, sind andere, darunter gewichtige, bestehen geblieben; neue sind dazugekomen:

PROBLEME

GESUNDHEIT* TBC weiterhin weit verbreitet; Saisonarbeit ausserhalb Izozog bringt vermehrt junge TB- Kranke

* Eines der Hauptprobleme/Todesursachen: Chagaskrankheit, der schwer beizukommen ist

WIRTSCHAFT/GESUNDHEIT* Latent: Soziale Privilegien der Lohnempfänger der Gesundheitsdienste, wachsende Distanz zur Bevölkerung

* Latent: Teilmonetarisierung der Gesundheitsdienste schafft Ungleichheit zu unbezahlten Mitarbeitern (Hebammen z.B.)

* Latentes Problem: Zentral gelegene, spitalnahe Dörfer durch Gesundheitsdienste bevorteilt – Bedrohung der Einheit?

* Auf Dorfebene noch schwaches Bewusstsein/Identifikation mit dem Gesundheitssystem als Ganzem, kann Selbstfinanzierungsplan ab 1995 torpedieren

* Unstabile Marktlage und unzuverlässige Zufahrtswege können Produktionserlös für Selbstfinanzierung drastisch vermindern

JUGEND/JUNGE* Junge, durch Welt der Weissen stark angezogen, befürworten Saisonarbeit ausserhalb, dadurch neue Probleme und Abhängigkeiten

Zukunftsperspektiven

Das langfristige Ueberleben der Gesundheitsdienste hängt zu einem grossen Teil vom Erfolg des geplanten Beitragssystems auf Dorfebene ab: Hier wurde zuversichtlich auf die Karte der den Izozeño vertrauten Landwirtschaftsproduktion, aber gleichzeitig auf die ihnen unvertrauten Mechanismen der Vermarktung gesetzt; davon sollen jährliche …., jetzt noch durch die «Institution» gedeckt, gesichert werden. So dreist dieser Plan scheinen mag: Er scheint der einzig mögliche Weg des Gesundheitssystems von der Gegenwart in die Zukunft zu sein. Gelingt er – und gelingen weitere Projekte, die die finanzielle Unabhängigkeit absichern sollen – wird ein alter Mythos der Guarani- Indianer erneut zur Realität werden: Das Überleben als sie selbst, unter gleichzeitiger Assimilation/Integration von Elementen der fremden Kultur, die an sie herangetreten ist.

2. Ausstrahlung und Multiplikation: Von einer Basisgruppe zur anderen

Im Laufe der letzten Jahre engagierten sich die Izozeño, zusammen mit anderen Stämmen, in zunehmendem Masse für indianische Anliegen auch auf regionaler und nationaler Ebene; dies geschah im Rahmen ihrer Mitarbeit in zwei Interessenverbänden, demjenigen der Guaranivölker und demjenigen der Indianer Ostboliviens. Andere Stämme und Basisgruppen wurden so aufmerksam auf Erfahrungen der Izozeño, die die Kontrolle über ihre Gesundheitsdienste erlangt hatten, und die, unabhängig von Einfluss, Schutz oder Willkür weisser Privatorganisationen, erfolgreich mit Behörden und sonstigen Gesprächspartnern umzugehen wussten. Das SRK- Büro für Bolivien wurde in der Folge von Vetretern solcher Basisgruppen kontaktiert, die für sich dieselbe Art der Unterstützung, wie sie die Izozeño genossen hatten, erhofften: eine Unterstützung, die es ihnen ermöglichen würde, wie die Izozeño zu werden: erfolgreich und sogar von den Behörden geachtet und respektiert; eine Unterstützung, welche die Autonomie und die Selbstbestimmung der Hilfeempfänger nicht verletzen würde. Anfänglich durch die Vermittlung des SRK- Büros, dann zunehmend unabhängig, gerieten die Izozeño so in die Rolle des erfahrenen älteren Bruders: Sie wurden über ihren Werdegang befragt und begannen, andere zu beraten, sei es bezüglich der einzuschlagenden Politik, sei es rein fachlich- technisch. Sie reagierten mit Initiative und überlegener Solidarität. Es kam zu gegeseitigen Besuchen, welche dem Studium der konkreten Situation und der Erfahrungen dienten.

Auf diese Art entstand 1990 ein weiteres, durch das SRK unterstütztes Gesundheitsprojekt mit Guarani- Indianern in Eiti, unter vergleichsweise sehr günstigen Voraussetzungen: Das Projekt ging auf die ausschliessliche Initiative seiner Zielbevölkerung zurück, die es sich, inspiriert und motiviert durch die Erfolge der Izozeño, vorgenommen hatte, die lokalen Gesundheitsdienste unter ihre Kontrolle zu bringen und zu verbessern; Know-how und Begleitung bekam sie dabei von den benachbarten Izozeño zugesichert.

Durch Bemühungen des SRK, Vertreter der Zielgruppen seiner Projekte untereinander in Kontakt zu bringen, lernten die Izozeño auch zwei durch das SRK unterstützen Quechuagruppen des Hochlandes kennen. Gegenseitige Projektbesuche führten mit der Zeit zur Schaffung einer den Projekten übergeordnete Struktur, die den permanenten Austausch von Erfahrungen, Lehrinhalten und Lehrkräften erlaubte. Erfahrungen mit Behörden und fachliche Kompetenz der Izozeño spielt innerhalb dieser von der Institution informell «Schule für Selbstverwaltung» genannten Struktur natürlicherweise eine grosse Rolle. «Manchmal können wir es unseren Brüdern ersparen, eine hohe Mauer mühsam zu überklettern, weil wir den Weg um die Mauer herum aus eigener Erfahrung kennen», sagt der Direktor der izozenischen Gesundheitsdienste. Die Bauern des Hochlandes haben indessen auch von den Fehlern der Izozeño gelernt, nicht nur von den Erfolgen.

Am Projekt von Mojocoya kritisierten die Izozeño ihrerseits die Tatsache, dass es sich zuwenig auf die Bevölkerung selbst abstütze. Die Bauern würden sich nicht engagieren und wüssten nicht mit den Behörden umzugehen. Tatsächlich war das Projekt in eine Phase der Stagnation geraten, als die Izozeño sich seiner annahmen. Doch die Kommunikation zwischen Tief- und Hochlandkulturen war nicht leicht, der Rat der Fremdlinge nicht immer willkommen, und die Izozeño mussten alle ihre kommunikativen und pädagogischen Fähigkeiten aufbieten («…wir mussten uns bescheiden zeigen, Ratschläge als vage Andeutungen äussern….»). Heute sind fast permanent Vetreter der izozenischen Gesundheitsdienste als Berater in Mojocoya stationiert. Der Lernprozess ist jedoch auch hier nicht einseitig. Das Mojocoya- Projekt hat gerade seiner Schwierigkeiten und Fehler wegen den Gruppen der übrigen Zonen und auch den Izozeño einen Schatz wichtiger Erfahrungen gebracht: So trug es zur Klärung des Konzeptes der «Selbstverwaltung» bei, demonstrierte die Wichtigkeit der Beziehungen zum Staat und die Folgen einseitiger Konzentration auf erzieherische Aktivitäten. Abgesehen vom Austausch auf fachlicher Ebene dürfte auch hier jedoch der zentrale, meist unausgesprochene Lehrinhalt das Gefühl sein, «wie wir, seid auch ihr stark genug, es zu schaffen».

Auch das Projekt Otuyo- Nuevo Palmar ist, wie das von Eiti, von den Betroffenen selbst aufgebaut worden. Ursprünglich baten sie das SRK um ein orthodoxes Gesundheitsprojekt für ihre Zone (externe Projektequipe, Mitsprache der Bevölkerung etc.), aber dessen Delegierter Paul Eberhard forderte sie auf, ihr Projekt selber zu formulieren und aufzubauen und drückte ihnen für den Anfang 3000 Dollars in die Hand. Es war das erste Geld und vielleicht das erste Vertrauen, das ihnen als Gemeinschaft jemand geschenkt hatte; sie nahmen die Herausforderung an und lernten dadurch nach und nach auch selber an ihre Fähigkeiten zu glauben. Das damit entstandene Projekt läuft ausschliesslich unter ihrer Verantwortung, und die Beziehung zur «Institution» SRK ist eine Partnerschaft ungleicher Partner auf gleicher Ebene. – Die bisherige Erfahrung der Dorfgemeinschaften von Otuyo mit NGO’s und Projekten war eine andere gewesen: «Die NGO’s, wie auch die kirchlichen Basisprojekte, haben uns immer gesagt, was wir zu tun hätten; uns Bauern hat man stets unterschätzt, man hat uns nicht zugetraut, Lösungen für die Probleme unserer Lebenssituation vorschlagen zu können. Als fremdbestimmte ‹Mitarbeiter› oder ‹Zielbevölkerung› von Projekten haben wir uns einschläfern lassen. Wir haben zudem die Höhe der für uns bestimmten Projektbudgets nie zu Wissen bekommen. Nach ein paar Jahren Projektarbeit, die den Zielsetzungen der NGO folgte, waren die Projekte jeweils zu Ende. Dabei haben vor Allem die externen Projektmitarbeiter profitiert und von ihren Löhnen gut gelebt».

Zum Projekt gehören rund 8000 Leute aus 10 Dörfern der Region Otuyo im Hochland von Potosí und einem neugegründeten Dorf von ausgewanderten Otuyenses im Tiefland, das von der Hochlandbevölkerung mit in das Gesundheitsprojekt eingeschlossen wurde. Die Otuyenses haben den Izozog während der letzten Jahre rund zwanzigmal besucht. Trotz markanter Unterschiede – die Izozeño haben ein im Wesentlichen von Weissen konzipiertes Gesundheitssystem übernommen und «indianisiert» weitergeführt, während in Otuyo ein von den Bauern konzipiertes System entsteht – haben die Besucher enorm von den Erfahrungen der Izozeño profitieren können. Sie betrachten beispielsweise die im Izozog praktizierte Kontrolle der Projektmassnahmen durch die Basis als für sie ungenügend und haben die ständige Beteiligung der Basis dementsprechend organisatorisch stärker abgesichert.

3. Ausstrahlung auf das Hilfswerk

Seit Beginn des Bolivienengagements der «Institution» hat dieselbe diverse Formen der Projektarbeit etappenweise durchlaufen; die Beziehung zwischen Hilfswerk und lokalen Partnern hat sich dabei stark verändert. Ende der 70er und bis in die 80er Jahre hinein suchte das SRK, wie es unter Hilfswerken üblich ist, nach zuverlässigen, mit der Zielbevölkerung der vorgesehenen Projekte vertrauten, aber externen lokalen Projektträgern; wo keine solchen gefunden wurden, wurde die Trägerschaft durch das SRK selbst, über eine von seinem Bolivienbüro aus geleitete bolivianische, überwiegend «weisse» Projektequipe übernommen (1978 – 86 im Izozog; 1981 – 91 in Mojocoya). Damit war das SRK- Büro Bolivien in Santa Cruz jahrelang Sitz der Leitungsfunktion für die Projekte und gleichzeitig Aussenposten der SRK- Zentrale in Bern. Die Zielbevölkerung der Projekte hatte mit der Institution fast ausschliesslich über deren Equipen im Feld Kontakt; in den Projekttexten wie im täglichen Diskurs auftauchende Begriffe wie «Partnerschaft», «Mitsprache», «Mitbestimmung» bezeugen die Existenz einer Suche nach Klärung der Beziehungen; in der Praxis blieben die Zielgruppen jedoch Bittsteller und Begünstigte, deren Interessen letzlich durch externe, weisse, allerdings besondes respektvolle und engagierte Fachleute interpretiert und vertreten wurden. Im Umgang mit dem Geld wurde der ungeklärte Charakter der Beziehungen am deutlichsten: Wenn auch inhaltliche Projektmassnahmen zunehmend mit Vertretern der Basis besprochen und mit ihnen zusammen entschieden wurden, mussten solche Projektinhalte sich doch innerhalb gewisser  Grenzen der «Finanzierbarkeit» halten; das heisst, dass die Projektinhalte in etwa einem Kriterienkatalog entsprechen mussten, dessen Inhalt die Rationalität und den jeweiligen fachlichen und entwicklungspolitischen Stand des SRK wiederspiegelte.

Wenn die Initiative, ein Projekt aufzubauen, sowohl als auch das dafür als Vorlage dienende Modell oder Muster von ausserhalb der Zielbevölkerung her stammen, dann hat «Mitbestimmung» lediglich noch den Sinn der Mitarbeit in einem bereits vorgegebenen (weissen) Rahmen; «Selbstbestimmung» ist nicht möglich, ebensowenig wie echte Motivation der Basis; es entsteht das Dilemma, das mit folgender Aussage umschrieben werden könnte: «Ich möchte, dass die Zielbevölkerung des Projektes frei und unabhängig entscheidet, das zu tun, was ich als richtig und fachlich korrekt betrachte und auch finanziell unterstützen werde». Innerhalb eines solchen Beziehungsmusters haben sich Partnerinstitutionen und auch Zielbevölkerungen allerorten seit Jahren auf den Diskurs, die Erwartungen und die Kriterien der geldgebenden Institutionen eingestellt, manchmal bewusst, meist allerdings unbewusst. Die dadurch entstehende Beziehung trägt die Fremdbestimmung und (koloniale!) Abhängigkeit, jenseits dessen, was sprachlich oder sonstwie ausgedrückt wird, wie einen genetischen Code in sich. Erst wenn dieses Beziehungsmuster gesprengt wird, kann sich eine neuartige, radikal andersartige Beziehung bilden.

Dies ist im vorliegenden Falle geschehen: Das SRK hat in Bolivien seit Jahren von der Möglichkeit einer gleichberechtigten Partnerschaft geträumt und sie gefühlsmässig gesucht. Als mit der Person Paul Eberhards ein Delegierter die Leitung des Bolivienbüros übernahm, der die notwendige, aus persönlichen Erfahrungen stammende Motivation mitbrachte und der Willens war, die entsprechenden, auch beruflichen Risiken einzugehen, wurde der orthodoxe Rahmen gesprengt; das Hilfswerk unterstützte dieses Vorgehen und trug die Risiken mit. Eine solche Haltung ist unter Hilfswerken unüblich, und sie trägt den Kern eines Widerspruchs zu ihrem eigenen, traditionell hierarchischen und kulturell eurozentrischen Hintergrund, ihrem institutionellen Umfeld und ihrer Gesellschaft in die Institution hinein.

Die Izozeño unterscheiden im Rückblick mit aller Klarheit zwei Projektphasen, vor und nach 1986/87. Bonny Chico bezieht sich folgendermassen auf die «Sprengung» des Beziehungsmusters: «Das Wichtigste war die Tatsache, dass Paul und das SRK «losliessen» und uns die Macht übergaben. Andere, in der Vergangenheit, haben das nicht getan und haben uns damit am Wachsen gehindert».

Wie sah die neuartige Beziehung aus? Im Fall des Izozog gab das SRK die Projektleitungsfunktion auf. Die Izozeño erzählen, dass sie die neue Unabhängigkeit zuerst wie ein Vakuum erlebten; das vitale Element der übergordneten, Sicherheit vermittelnden Führung fehlte, und der Ersatz dafür musste nun von ihnen selbst langsam konstituiert werden, durch den Aufbau eigener Kräfte, eigenen Selbstvertauens und eigener Sicherheit; die Izozeño sagen, sie hätten für die Überwindung dieses «Anfangsschocks» etwa ein Jahr gebraucht – ein Jahr mit wenig effizienter Projektaktivität, das die «Institution» mit Geduld und ohne den Finanzhahn zuzudehen abwartete. Nach diesem Jahr hatten sich die Izozeño in ihre neue Rolle eingelebt; sie hatten sich das Projekt zu eigen gemacht und begannen, damit zu arbeiten. Entsprechend hatte auch das SRK eine neue, reduziertere Rolle übernommen und trat den Izozeño gegenüber nun nur noch als geldgebende Partnerinstitution auf; die Institution stellte ausserdem ihren Delegierten als externen Begleiter/Berater und ihr Büro als Stützpunkt in der Stadt zur Verfügung; damit gab die Institution formell und faktisch das Recht auf, ohne Erlaubnis der Stammesführung in die Gesundheitsdienste, die Spitalverwaltung oder die Beziehungen zu Behördenstellen einzugreifen. Analoge Beziehungen entstanden ab 1990/91 im Projekt Mojocoya, und das Beziehungsmuster für Eiti und Otuyo- Nuevo Palmar war gleich von Anfang an das neue.

Ein Teil der Auswirkungen sind heute bei einem Besuch des SRK- Büros in Santa Cruz leicht feststellbar: Indianer und Bauern gehen ein und aus; es ist auch ihr Büro, Versammlngs- und Arbeitsort. Oberhäuptling Bonny Chico führt während seiner kurzen Stadtaufenthalte von hier aus Telefongespräche und Behördenverhandlungen und entwirft Briefe, die hernach von der SRK- Sekretärin getippt werden. Paul ist als SRK- Delegierter formell Chef des Büros; mit den konkreten Aktivitäten hat er nur insofern zu tun, als sie seine eigene Funktion betreffen.

Dieselbe besitzt ihre eigene Dynamik, deren Hauptkomponente durch die Rolle als externer Begleiter/Berater der von den unterstützten Projekten geschaffenen Kontakt- und Austauschstruktur («Schule für Selbstverwaltung») gegeben ist. Permanente Lehrer und zugleich Schüler dieser Schule sind die Izozeño, die Otuyenses, die Leute von Mojocoya etc. Der Lehrstoff besteht im Wesentlichen im Erlernen der Fähigkeit, selbständig und selbst- bestimmt mit den täglich anfallenden Probleme der Projektarbeit und des kollektiven Überlebens umzugehen; mit eingeschlossen in diesen Lehrstoff ist das Erlernen des neuartigen Beziehungsmusters zwischen Indianern und Bauern einerseits und «weissen» Bolivianern oder Schweizern andrerseits. Paul Eberhard bewegt sich bei dieser sehr kreativen, viel Einfühlungsvermögen und Zeit erfordernden Arbeit immer an der Grenze zu anderen Kulturen, manchmal auch jenseits; oftmals muss er aktiv mitarbeiten, während andere Male Zurückhaltung und «Werden lassen»  entscheidend sein können. Sein Tagesablauf ist auf rasches, flexibles Eintreten auf Neues, Unvorhergesehenes und auf die Tatsache eingestellt, dass die von den Partnern gelebte Realität jeden Augenblick erneut in undosierter und zeitlich unregulierter Form über das Büro und die «Institution», aber auch über ihn persönlich hereinbricht.

Er steht gleichzeitig aber auch in Verbindung mit der Zentrale in der Schweiz, deren zeitlichen Terminen und formalen Ansprüchen er trotzdem zu genügen versucht. Paul Eberhard umschreibt den Widerspruch zwischen den beiden Welten, so wie er sich in seiner täglichen Arbeit materialisiert, als «Bruchstelle», und er ist froh, das entsprechende «Bruchstellengefühl» und dessen Konsequenzen mit der zuständigen Länderverantwortlchen und mit der Zentrale des Hilfswerks teilen zu können und von dort aus in seiner aufreibenden Position auch unterstützt zu werden.

Die radikale Änderung der Beziehung zwischen Hilfswerk und unterstützter Basisgruppe hat demnach nicht nur zu einer Uebergabe der Rollen geführt, sondern hat auch – über die dadurch ermöglichte Selbst- Bestimmung – den Inhalt dieser Rollen zutiefst verändert: Indianer leiten ein Projekt nicht gleich wie Weisse; ein von der Zielbevölkerung geleitetes Projekt unterscheidet sich schon nach kurzer Zeit von einem durch eine lokale «weisse» NGO oder durch ein Hilfswerk geleitetes Projekt. Ein Hilfswerksvertreter, der sich als Berater in die den Basisgruppen eigenen Arbeitsdynamik eingibt und sich darauf einlässt, gerät in Widerspruch zur Arbeitsdynamik oder Arbeitskultur seiner Herkunftsinstitution. Das ist die Bruchstelle. An ihr treffen sich unterschiedliche Zeitbegriffe, unterschiedliche Logiken, unterschiedliche Temperamente und Reaktionen, unterschiedliche Begriffe von Zuverlässigkeit, Verantwortung, Pünktlichkeit, Effizienz, Produktivität, Rationalität.

Den Partnerbevölkerungen wurde hier die Möglichkeit eingeräumt, ihre Wirklichkeit durch Projekte, die ihrer eigenen Welt – jenseits der Bruchstelle – entsprechen, zu gestalten und zu verändern. Das bedeutet, dass man bereit ist – nach 500 Jahren -sich der Andersartigkeit des Fremden auszusetzen und auch, sich durch sie verändern zu lassen. Die radikale Umgestaltung der Beziehung zwischen Helfer und Empfänger der Hilfe wird so zum zentralen Inhalt der Entwicklungsarbeit, und selbstbestimmte und autozentrierte Entwicklung wird möglich.

4. Bolivienprogramm SRK: Analyse nach Stichworten

«Neues Beziehungsmuster»: Die vorausgehenden Kapitel deuten darauf hin, dass behutsames, stark basisorientiertes Vorgehen allein keine Garantie für das Entstehen einer von den Helfenden unabhängigen und selbstbestimmten  Entwicklungsdynamik in der Zielbevölkerung darstellte. Eine radikale Veränderung des Beziehungsmusters zwischen Helfer und Zielbevölkerung war nötig. Diese Veränderung betrifft – das heisst verändert – auch den Helfenden, im vorliegenden Fall das Hilfswerk. Im neuen Beziehungsmuster bestimmt die Zielbevölkerung ihre Arbeit und deren Inhalte selbst, aus der eigenen Lebenswelt oder Kultur heraus. Nur so kann eine nachhaltige Entwicklungsdynamik entstehen, die mit oder ohne Aussenhilfe andauert. Entwicklung heisst jetzt nicht mehr Sich- auf- das- Lebensmodell- des- Nordens- zubewegen, sondern verfolgt den jedem Volk und jeder Gruppe ureigenen Weg kollektiver Entfaltung und Selbst- Werdung.

«Erforschung der ‹Bruchstelle'»: Die «Bruchstelle» ist der Punkt, an dem die unterschiedlichen, in sich selbst zentrierten Kulturen oder Welten zusammentreffen (beispielsweise auch erfahrbar im sehr häufigen, als «Konflikt zwischen Feld und Zentrale» bezeichneten Phänomen). Diese Bruchstelle kann nicht eliminiert, die in ihr entstehenden Widersprüche nicht gelöst werden. Deshalb ist es unumgänglich, sie zu erforschen und zu lernen, mit den Widersprüchen zu leben und damit umzugehen. Beispiel: Die von den Izozeño seit 1987 gestalteten Gesundheitsdienste entsprechen inhaltlich immer noch dem, was das SRK (indirekt: DEH) als fachlich vertretbar und finanzierbar betrachtet. Was aber, wenn die Izozeño Massnahmen ergreifen würden, die diesen Rahmen sprengen? Widersprüchliche Anschauungen würden hier zusammentreffen; innerhalb des neuen Beziehungsmusters wird diesen Widersprüchen nun aber nicht mehr durch die taube Ausnützung der finanziellen Überlegenheit, sondern durch Verhandlungen gleichberechtigter Partner begegnet. Dabei muss ein delikates Gleichgewicht gewahrt werden: Was ist für das SRK vertretbar, was aber ist auch für die Izozeño, innerhalb ihres eigenen Weges, vertretbar? Hilfswerke haben bisher immer sorgsam auf die Erhaltung ihrer institutionellen Identität geachtet; nun sind sie aufgerufen, gleichzeitig auch die Identitätssuche der von ihnen begünstigten Zielgruppen zu respektieren.

«Funktion des Hilfswerks»: Innerhalb seines Bolivienprogramms ist es dem SRK gelungen, zugunsten von bisher vier Zielgruppen fachlich funktionelle und effiziente Gesundheitsdienste entstehen zu lassen. Das ist an sich, wie jeder initime und ehrliche Kenner von Entwicklungsprojekten bestätigen wird, schon ein recht ausserordentliches Verdienst. Der Haupterfolg des Programms liegt jedoch nicht hier, sondern hat mit der Veränderung der Beziehung zu den Zielgruppen zu tun. Dadurch ist innerhalb derselben Selbstvertrauen, Energie und eine Kraft entstanden, die es ermöglicht, über das Gesundheitliche hinaus – und allenfalls sogar mit weniger funktionellen oder effizienten Gesundheitsdiensten – selbständig mit den Problemen des Überlebens umzugehen. – Für die Zielgruppen ihrerseits stellt das SRK  ein Kommunikationsinstrument dar, das als Brücke zur dominierenden Kultur der Mehrheit benützt werden kann; dies ist unter anderem durch die Passivität, die Öffnung und die Anpassungsfähigkeit des Hilfswerks möglich, und durch die Tatsache, dass dasselbe in Bolivien als Institution keinerlei eigene Machtinteressen verfolgt.

«Was ist ‹Gesundheit›?»: Orthodoxe Entwicklungsarbeit im Gesundheitsbereich legt den Hauptakzent auf die Schaffung von Bedingungen, die Gesundheit im westlichen, hauptsächlich physiologisch- materiellen, auf das Individuum zentrierten Sinne fördern; gemessen wird der Erfolg oder Misserfolg vor Allem mit Hilfe quantitativer Daten (Statistiken) und an der mechanistischen Effizienz der Gesundheitsdienste. Der indianische Gesundheitsbegriff ist wesentlich weiter: Individuelles, körperliches Wohlergehen ist lediglich ein Aspekt unter vielen, die den Zustand umfassender Gesundheit schliesslich ausmachen; andere Aspekte sind aktive Spiritualität auf individueller und kollektiver Ebene, soziale Harmonie, Einheit und Kraft, harmonische Beziehung zur Umwelt – der Indianer, wie auch der Bauer des Hochlandes, versteht sich selbst als Teil davon. – Im neuen Beziehungsmuster hat die Zielbevölkerung die Möglichkeit, von ihrem eigenen, möglicherweise stark vom westlichen abweichenden Gesundheitsverständnis auszugehen und Elemente westlicher Medizin allenfalls selektiv darin aufzunehmen. Wie die Erfahrung des SRK in Bolivien zeigt, ist dies ohne qualitative Einbusse der Effizienz im westlichen Sinn möglich.

«Gegenseitige Stärkung von Basisgruppen»: Die eigene, auch soziale Identität entsteht und wächst zum Teil aus dem Vergleich mit Anderen; die Indianer und Bauern in Bolivien zeigen eine enorme Neugier in Bezug auf Lebensbedingungen, Probleme und Strategien benachbarter und ähnlicher Basisgruppen. Diese Neugier kann zur treibenden Kraft einer Dynamik werden, welche die Grundlagen eines freien, informellen Lehr- und Lernsystems bilden. Jede Gruppe geht ihren eigenen Weg, der jedoch vergleichbare Elemente zu denen anderer Gruppen aufweist; in der Folge können positive Erfahrungen zur eventuellen Verwendung weitergegeben werden, Fehler werden möglicherweise nicht wiederholt; gegenseitige Beratung stärkt nicht nur die Empfänger, sondern auch die Berater; kollektive Energie kann als Optimismus auf andere überspringen. Der so beschriebene Lernprozess stellt eine Alternative zur orthodoxen Lehrbeziehung zwischen Entwicklungshelfer und Zielbevölkerung dar.

«Beziehungen der Zielgruppe nach Aussen»: Zielgruppen oder -bevölkerungen werden normalerweise aufgrund besonders negativer Lebensbedingungen zu solchen erklärt. Das bedeutet, dass sie innerhalb ihres eigenen sozialen Umfelds, ihrer nationalen Gesellschaft, aufgrund z.B. rassischer oder wirtschaftlicher Eigenschaften als «Problemfall» gebrandmarkt und dissoziiert werden; die betroffene Gesellschaft begreift selten, dass gerade in solchen Gruppen ihre eigenen brennendsten Probleme, aber auch wichtige Lösungselemente konfiguriert sind. Die Zielbevölkerung oder -gruppe ihrerseits erfährt sich als hilf- los, macht- los und abhängig. – Die Schaffung von Bedingungen auch kollektiver Gesundung verändert diese Selbsteinschätzung: im Wissen um die eigenen, neuen Kräfte verliert das Umfeld für die Zielbevölkerung an Bedrohlichkeit; erst jetzt kann dieses Umfeld überhaupt in Ruhe betrachtet und nun auch besser verstanden und realistischer eingeschätzt werden. Izozeño, Otuyenses etc. erhalten im hier analysierten Fall die Möglichkeit, nicht nur ihre eigenen Probleme kennenzulernen, sondern auch die ihres (weissen) Umfelds und der bolivianischen Gesellschaft, Probleme, die in grösserem oder weniger grossen Ausmass auch bereits ihre eigenen Lebensbedingungen belasten. Eine nüchternere, differenzierter Einschätzung des mythifizierten weissen Modells ist die Folge; dabei kann es durchaus geschehen, dass für die in der nationalen Gesellschaft dominierenden Probleme (z.B. soziale Ungerechtigkeit; Konsumabhängigkeit; Suchtmittelmissbrauch, Korruption etc.) innerhalb der Kultur der Zielbevölkerung adäquate Antworten sichtbar werden. Das neue Beziehungsmuster eröffnet übrigens auch auf weisser oder Hilfswerksseite eine neue, «integriertere» Betrachtungsweise: Plötzlich befinden sich Indianer oder Bauern nicht mehr als das zu analysierende soziale Objekt im Blickfeld aussenstehender Helfer, sondern können – aufgrund der Erfahrung der Gleichwertigkeit – als Teil ein und derselben globalen Situation und als durch dieselben Probleme betroffene Gruppen gesehen werden. Der Vergleich der Probleme der Zielgruppe mit denen der weissen Gesellschaft bringt übrigens auch die umgebende Gesellschaft oder die aussenstehenden Helfer zu einer realistischeren und für die Beziehung letztlich nützlicheren Selbsteinschätzung.

«Nachhaltigkeit»: Nachhaltige Entwicklung im Sinne von Schaffung verbesserter, selbstverwalteter und selbstbestimmter Überlebensgrundlagen kann nicht beschränkt auf eine Bevölkerungsgruppe, sondern nur durch Veränderung des gesamten einwirkenden Umfeldes entstehen. Im Rahmen der hier vorgestellten Projekte wird jedoch sichtbar, dass eine autozentrierte und selbstbestimmte Entwicklungsdynamik gewisse, wichtige Voraussetzungen der Nachhaltigkeit schaffen kann; dabei stehen eingangs und typischerweise vor allem Faktoren wirtschaftlichen Überlebens im Zentrum des Interesses. Der Grad der Monetarisierung des täglichen Lebens einer Bevölkerungsgruppe, einschliesslich der Monetarisierung der Kosten von Massnahmen im gesundheitlichen Bereich spielt eine grosse Rolle; industriell hergestellte Medikamente, Einsatz von Ärzten der westlichen Medizin, motorisierte Krankentransporte oder motorisierte mobile Equipen müssen mit Geld bezahlt werden, während traditionelle Ärzte, Geburtshelfer und Medikamente, traditionelle Transportmittel, aber auch ein grosser Teil der Ernährungsbedürfnisse der Kranken eines Gemeinschaftspitals mit Naturalien abgegolten oder gedeckt werden können. Wichtig ist dabei die bereits vorher erwähnte Fähigkeit, sich bei den monetarisierten Aspekten des Systems auf das Allerwesentlichste und wirtschaftlich Tragbare zu beschränken, andrerseits aber die monetären Einkünfte durch Mobilisierung nicht monetärer, nicht erschöpflicher traditioneller Ressourcen zu erhöhen. Sowohl die Izozeño als auch die Otuyenses und die Bewohner der Gegend von Eiti tun beides; für die Schaffung monetärer Einkünfte zugunsten des Gesundheitssystems haben die Izozeño über 100 Hektaren Ackerland vorbereitet; der Erfolg hängt allerdings nur zum Teil von ihnen selbst ab, und im selben Mass kann von nachhaltiger Entwicklung auch nur in beschränktem Masse gesprochen werden: nationale und internationale Marktpreise für ihre Produkte, anderweitige Veränderungen der Marktsituation, Kostenentwicklungen und Privatisierungsgrad der nationalen Gesundheitsdienste, Wettereinflüsse und umweltbedingte Boden- und Klimaveränderungen sind einige der Faktoren, die den Erfolg mit bestimmen und die sich der Kontrolle der genannten Bevölkerungsgruppen fast ganz entziehen. Trotzdem scheint der einzige Weg des individuellen und kollektiven Überlebens ungefähr in diese Richtung zu weisen.

Die Izozeño konnten in den letzten 15 Jahren ihre wirtschaftliche Überlebenssituation nicht verbessern; und doch stehen sie heute wesentlich besser da. Es ist offensichtlich, dass eine selbstbewusste, auf ihre Fähigkeiten vertrauende Bevölkerung mit starker Identität bessere Chancen für ein nachhaltiges Überleben besitzt; jenseits der objektiv messbaren, materiellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten kommen hier Faktoren, die mit ganzheitlicher, auch kollektiver Gesundheit, spiritueller Kraft und mit Energie zu tun haben, ins Spiel; Faktoren, wie sie innerhalb eines neuen Beziehungsmusters entstehen können. – Damit verliert die Ausrichtung der Projektarbeit auf konkrete Ziele nicht etwa ihre Bedeutung; man könnte eher sagen, dass das Hauptziel nicht mehr die Erreichung eines Zustands ist (Beispiel: «nachhaltige wirtschaftliche Sicherung»), sondern das Entstehen einer Dynamik, das Auslösen eines Prozesses; eine der Hauptkomponenten dafür liegt in der Qualität der Beziehung zwischen Zielgruppe und umgebender Gesellschaft/ Helferorganisation.

«Modellhaftigkeit»: Modelle dienen der Nachahmung; kann die hier beschriebene und analysierte Erfahrung zum Rezept werden? Als Vorlage für eine massive Verbreitung wird die vorliegende Erfahrung, wenigstens zum jetzigen Zeitpunkt, kaum viel Anreiz bieten: Ihre speziellen Ingredienzen wie persönliche Eigenschaften, gefühlsmässige und spirituelle Faktoren, zwischenmenschliche Beziehungsfähigkeit, etc. liegen möglicherweise zu weit ab von den Mischungselementen orthodoxer «erfolgreicher», technisch machbarer und institutionell organisierbarer Entwicklungsarbeit. – Im Falle der Izozeño hatte es das SRK mit einer Zielbevölkerung mit intakter traditioneller Sozialstruktur zu tun, was zweifellos einen Vorteil darstellte; der Fall von Otuyo- Nuevo Palmer zeigte demgegenüber, dass ein neugebildeter Zusammenschluss loser Dorfgemeinschaften als Sozialstruktur fast ebenso leistungsfähig zu sein scheint; in beiden Fällen bildet die innere Einheit der Bevölkerung als Gruppe eine der wichtigsten Voraussetzungen. Wenn Entwicklungsarbeit in der Zukunft auch nur vermehrt auf die Bedeutung bestehender Strukturen und kollektiver Einheit achten würde, wäre bereits ein Schritt auf das neue Beziehungsmuster zu getan.

5. Neue Agenda für Entwicklungsarbeit

Basisarbeit und Hilfswerksarbeit können aus der oben beschriebenen Perspektive nicht unverändert bleiben: Selbstbestimmung der Zielbevölkerung bedeutet zugleich auf Hilfswerks- oder NGO- seite Verzicht auf das bewusste oder unbewusste Durchsetzen der eigener Zielsetzungen und des eigenen Modells. Im Falle des Bolivienprogramms erfuhr das SRK diese Veränderung als eine dem Prozess der Zielbevölkerung gegenläufige Entwicklung: Einbusse des Einflusses des Hilfswerks, während die Zielbevölkerung den Grad ihrer Selbstbestimmung erhöhte; dies führte zum Überdenken der Hilfswerkseigenen Kriterien und Arbeitsmechanismen im Feld und in der Zentrale. Hier werden einige der möglichen neuen Kriterien skizzenartig aufgeführt:

Generelle Kriterien:

* Die Zielbevölkerung arbeiten lassen, statt sie zu bearbeiten.

* Die Beziehung zur Zielbevölkerung leben. Nicht nur die eigenen Gedanken, sondern auch die eigenen Gefühle dabei ernstnehmen

* Sich überraschen lassen und auf das Überraschende eingehen

* Manchmal ist Handeln wichtig, manchmal das Gegenteil: Warten und Werden lassen

* Manchmal ist es nötig, sich etwas zurückzuziehen, bevor man weitergehen kann

* Auch innerhalb des alten, orthodoxen Beziehungsmusters war von «Selbstbestimmung» die Rede; Diskurs und Terminologie allein sind noch kein Beweis dafür, dass sich das Beziehungsmuster wirklich verändert hat.

Kriterien für Hilfswerksarbeit im Feld

* Die Integrität jedes Teilnehmers muss gewahrt sein: Jeder soll an seinem Ort stehen

* Zwischenmenschliche Beziehungen, auch auf kollektiver Ebene, und die Art, wie sie gelebt werden, haben eine zentrale Bedeutung

* Leute, auch Entwicklungshelfer, sind nicht auswechselbar (sie sind nicht «Rädchen», Entwicklungsarbeit ist keine Maschine)

* Bei der Auswahl der Mitarbeiter und Partner im Feld sollte die Qualität ihrer persönlichen Beziehung zu ihren eigenen Leuten, zu ihrer eigenen Bevölkerung von grosser Bedeutung sein

* Die Mitarbeiter/Partner im Feld sollten auch ihre eigene Herkunftskultur gut kennen, einschliesslich ihrer Schwächen

* Sie sollten die Fähigkeit besitzen, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden

* Sie sollten ziemlich bedingungslos auf das eingehen, was der Zielbevölkerung in ihrem Prozess passiert; daraus entsteht auf «natürliche», für das Hilfswerk nicht voraussehbare Weise ihr Pflichtenheft

* Sie müssen einen klaren Blick haben für das, was die Zielbevölkerung wirklich braucht, was sie (noch) nicht selbst handhaben kann

* Sie sollten ein Grundvertrauen in die Zielbevölkerung fühlen und dieses Gefühl der Zielgruppe mitteilen können

* Selbstbestimmung der Zielbevölkerung setzt voraus, dass dieselbe zu allen Informationen, die sie zum entscheiden braucht, auch wirklich Zugang hat; das bedeutet intensive Kommunikation und grösstmögliche Transparenz.

Kriterien für Hilfswerksarbeit in der Zentrale:

* Die Zentrale sollte nicht eine Aktionspolitik definieren, wie das normalerweise geschieht, sondern sollte unterstützen und Beziehungen erleichtern. Ist dies nicht der Fall, kann es manchmal innerhalb des Hilfswerks zur Umkehrung der Aufgaben kommen: Das Feld unterstützt dann die Zentrale.

* Auch für Hilfswerkszentralen gibt es eine Bruchstelle; vielfach liegt sie am Punkt, wo gute Absichten und sozialpolitisches Engagement mit wirtschaftlichem Überlebenskalkül und institutionellem Geltungsdrang zusammentreffen. Auch diese Bruchstelle – sie scheint ebenso unvermeidlich wie die andere – muss akzeptiert und erforscht werden; die Zentrale muss lernen, damit umzugehen, ohne die im Feld entstehenden und stattfindenden Prozesse zu behindern.

* Die Zentrale sollte so ehrlich wie möglich zu dem stehen, was im Feld passiert. Misserfolge, Stagnation und Ratlosigkeit sind ein organischer Teil jeder Projektbeziehung

* Die Zentrale sollte dem Feld die nötige Verantwortung und das entsprechende Vertrauen geben; systematische Zweifel, Misstrauen und eine auf hierarchischen Kontrollen basierende Kommunikation zwischen Hilfswerk und Feld komplizieren die durch das Bruchstellenphänomen ohnehin bereits sehr belastete Beziehung.


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