UNSICHTBARES PARAGUAY

Eine Welt bricht ein

(1996 geschrieben)
Das neue moderne Tram von Basel nach Oberwil bleibt im sandigen Busch Ostparaguays stecken.

F.V. Pavia

 

 

 

 

Seit gestern eingenistet in einem Leben in Basel, ergänzte ich heute im gelben Tram das Erleben mit Musik: Ich würde nicht einfach die üblichen Bau-, Verkehrs- und Menschengeräusche, sondern sozusagen eine ganz eigene Musik zum ganz eigenen Film meines Lebens hören. Heute war es die Kassette mit der Gitarrenmusik von Augustin Barrios, die ich in den Walkman schob. Irgendwo in Südamerika überspielt von einer alten, schadhaften 78er Platte, ist das besondere dieser Aufnahme die Tatsache, dass sie 1927 entstand und dass Barrios, der Komponist, seine Musik selbst spielt.

So glitt mein modernes, grünbeglastes Tram mit mir ins Grüne, und die Musik dazu war Barrios› Feuer von 1927, Barrios› innerer Rhythmus, den seine Finger unablässig in das Instrument trommelten. Aber es blieb nicht beim Gehörten. Zusehends begann die Musik auch Bilder ins Leben zu rufen, löste sich die geordnete, wohl organisierte Alltags- und Lebenswelt eines Basler Aussenquartiers mit Wohnblöcken, Einfamilienhäusern, sauberen Baustellen und einkaufenden Frauen auf in den gleissenden Herbstnachmittag einer paraguayischen, leicht hügeligen Landschaft. Eine fordernde Sonne drang auf mich ein, heftig, silbrig, golden, zwang mich, die Augen zu schliessen, zurückzulehnen, mich selbst aufzugeben.

Ich lehne mich zurück, das Tram gleitet fort, hält, ein Kinderwagen steht plötzlich neben mir, eine junge Frau; das Tram fährt weiter.

Die Musik macht nun etwas in mir weich und zugänglich, und die harte, selbstverständliche, von Leben strotzende Wirklichkeit Paraguays drängt sich in die Basler Realität hinein. Ist es dieselbe Welt, die Paraguay und Basel enthält? Und wo läge die Nahtstelle: wo hört Paraguay auf und wo beginnt Basel? Handelt es sich um getrennte Welten? Liegen sie ineinander? Könnte Barrios jetzt gerade hier spielen? Wäre es möglich, ihn an der nächsten Haltestelle einsteigen zu sehen?

Dasselbe Tram, in dem ich sitze, wie würde es in Paraguay aussehen? Es würde bald aufhören zu gleiten, merke ich. Sand und rote Erde würden bald seinen Gang und auch sein Aussehen verändern, es würde schmutzig und würde ein paar neue, ungewohnte Quietschgeräusche machen. Und wohin würde es fahren? Würde es überhaupt noch fahren?

In die nächste Landbesetzung? Mitten in ein gerodetes Stück Urwald, wo 110 landlose Campesino- Familien mit einer friedlichen, aber unerbittlichen und bedingungslosen Besetzung versuchen, einem Grossgrundbesitzer das für sie zum Überleben unerlässliche Stück Erdoberfläche abzuringen. Bis zur ersten Ernte in ein paar Monaten haben sie fast nichts zu Essen und nur wenig Geld für das lebenswichtige Saatgut, die Äxte, Macheten und Spitzhacken.

Da bleibt mein grün beglastes Tram nun ächzend stehen – wie es überhaupt soweit gekommen sein mag? Die grünen Scheiben bräuchte es nicht mehr; hier ist ohnehin genug an Grünem. Centú[1] würde zu mir treten und mir auf die Schultern klopfen und sich über die phantastische Absurdität des Trams, das ich mitgebracht habe, herzlich und laut freuen. Dutzende von Kindern würden sich um uns und das gelbe Gefährt scharen, die einen scheu, mit forschenden Blicken, die andern auf der für mich unsichtbaren Seite des Trams schon probeweise Hände anlegend an Knöpfe, glatte Oberflächen und eisernes Unterwerk.

[1] Centú: Victoriano Centurión, paraguayischer Campesino- Anführer und Guerillero († 2016); kämpfte seit den 50er Jahren nicht nur gegen die Diktatur, sondern gegen das dominante Lebensmodell – inklusive Schule und Kirche – welches seine traditionelle Herkunftswelt, die der Campesinos, zerstörte (und immer noch zerstört). Fünfmal im Gefängnis, mehrmals gefoltert, mehrmals dem sicheren Tod entgangen, sieben Jahre im Exil. Manchmal von seinesgleichen „Profeta Loco“ genannt („der verrückte Prophet“). Bebaute in seinen letzten Lebensjahren sieben Ha. Land und Wald in Caaguazú, mit unermüdlicher Vitalität, und rein organisch, umgeben von Soyaplantagen. Sagt, Paraguay gebe es nicht mehr.


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